Wenn der Genitiv den Dativ umbringt

»Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod« – der Titel von Bastian Sicks Buch ist inzwischen fast schon zum geflügelten Wort geworden. Aber stimmt das so überhaupt?

Dass umgangssprachlich häufig der Dativ verwendet wird, wenn standardsprachlich der Genitiv korrekt wäre, ist wirklich ein alter Hut. Daneben – und weit weniger bekannt – gibt es aber auch den umgekehrten Fall: Der Genitiv verdrängt den eigentlich korrekten Dativ.

Entgegen, gegenüber, gemäß, laut

Schon seit längerer Zeit fällt mir in Kommentarspalten und Blogtexten, aber auch in Zeitungsberichten auf, dass die Verfasser in bestimmten Wendungen den Genitiv verwenden, obwohl der Dativ korrekt wäre. Das betrifft die Präpositionen »entgegen«, »gegenüber«, »gemäß« und »laut«. Sie alle verlangen den Dativ:

  • entgegen meinem Rat, nicht: entgegen meines Rats
  • gegenüber dem Hotel/dem Hotel gegenüber, nicht: gegenüber des Hotels
  • gemäß seinem Wunsch, nicht: gemäß seines Wunsches
  • laut ihrem Brief, nicht: laut ihres Briefs

Laut dem Duden (;-)) ist im Fall von »laut« auch der Genitiv möglich. Dabei ist gut zu wissen: Der Duden ist nicht verbindlich. Er gibt den Sprachgebrauch wieder, stellt aber nicht die Regeln auf (dafür ist der Rechtschreibrat zuständig). Kommt ein sprachliches Phänomen häufig genug vor – sprich: verwenden genug Leute etwas oft genug falsch –, findet es irgendwann auch Eingang in den Duden. Im Fall von »laut« steht dort übrigens »selten mit Genitiv«.

Auch der Akkusativ muss dran glauben

Manchmal hat es auch der Akkusativ schwer, und zwar in Kombination mit »wider«. Hier hat der Genitiv eigentlich nichts zu suchen, dennoch liest man recht häufig »wider besseren Wissens«. Korrekt ist nur »wider besseres Wissen«. Sie wissen es natürlich besser.

Korrekt ist der Genitiv »meines Wissens«. Ironischerweise schreiben oder sagen viele Leute »meines Wissens nach«, was falsch ist, weil Verbindungen mit »nach« mit dem Dativ gebildet werden. Sie könnten also allenfalls »nach meinem Wissen« oder »meinem Wissen nach« sagen.

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3 Kommentare zu „Wenn der Genitiv den Dativ umbringt“

  1. Sehr interessant: Genau das Thema beschäftigt mich auch, Ihre Beobachtungen bestätige ich gerne. Auch ich war immer der Ansicht, dass das Lamento à la Bastian Sick über ein angebliches Verschwinden des Genitivs empirisch einfach falsch ist. Und Sick ist von Linguisten harsch kritisiert worden. Auch ich habe wie Sie den Eindruck, dass vielmehr der Gebrauch des Genitivs nach klassischen Dativ-Präpositionen zunimmt. Vor etlichen Jahren hieß es in einer öffentlich-rechtlichen Fernsehsendung, bei der Hamburger Sturmflut im Jahr 1962 habe Helmut Schmidt „entgegen des Grundgesetzes“ die Bundeswehr eingesetzt.

    Ja, da denkt unsereins zunächst einmal: Im Journalismus wird immer mehr falsches Deutsch gesprochen und geschrieben. Aber: Ist „entgegen“ mit Genitiv tatsächlich falsch? Womit wir sogleich bei der Diskussion über Deskriptivität versus Normativität von Grammatik wären. Auf der deskriptiven Ebene ist es so:

    https://www.vogt-text.ch/vogtblog/praeposition/296-entgegen

    zeigt uns eine Karte des deutschen Sprachraums, die deutlich macht, dass fast überall die Verwendung von „entgegen“ mit Genitiv als Nebenform in mehr als vernachlässigbaren Anteilen zu beobachten ist. Die einzige Region, wo der Genitiv mit „entgegen“ überhaupt nicht gebraucht wird, ist der Karte zufolge der westliche Rand von Nordrhein-Westfalen. Kein Wunder: In der Gegend gibt es noch das alte niederdeutsche Dialektkontinuum zum Niederländischen, wo es nie einen Genitiv gab. Erstaunlich dagegen: Den höchsten Anteil hat der Genitiv nach „entgegen“ ausgerechnet im Südwesten – obwohl auch die alemannische Dialektgruppe nie einen Genitiv kannte.

    Ich kann dazu nur eine Hypothese formulieren: Ich glaube, wir haben es mit einem soziolinguistischen Phänomen zu tun. In Zeiten, als im Südwesten Deutschlands noch ein ländlich-dialektales Sprechen dominierte, wäre dort niemand auf „entgegen“ + Genitiv gekommen, aber im Aufsteigerländle scheint man das „Mir könnet alles außer Hochdeutsch“ durch exzessive Übernahme des Genitivs falsifizieren zu wollen. (Wobei „wollen“ natürlich das falsche Wort ist: Sicher ist das kein bewusster Willensakt, sondern ein unbewusster Vorgang.)

    Meine Vermutung ist ganz einfach: Der Genitiv ist der Kasus, der besonders „hochsprachlich“ und „gebildet“ klingt. In vielen deutschen Dialekten gibt es ihn nicht, umgangssprachlich wurde er stets wenig verwendet. Die Versuchung scheint daher groß, gehobene Sprachkompetenz und Zugehörigkeit zur gebildeten Klasse durch den Gebrauch des Genitivs zu demonstrieren. Dabei schießen viele Leute gerne übers Ziel hinaus.

    Wir, die es besser wissen, mögen geneigt sein, das sozialkritisch als dummes Distinktionsmerkmal des halbgebildeten Aufsteigertums aufs Korn zu nehmen. Allerdings werden wir damit wahrscheinlich auch nicht mehr erreichen als elitär-kulturpessimistische Sprachsnobs, die ein Verschwinden des Genitivs halluzinieren. Der Wandel wird sich auf die Dauer nicht aufhalten lassen.

    1. Miriam Muschkowski

      Vielen Dank für Ihren ausführlichen Kommentar. Ich kann dazu ergänzen: In der Soziolinguistik nennt man dieses Phänomen – wenn Sprecher bei der Anpassung übers Ziel hinausschießen – Hyperkorrektur.

  2. Sehr oft ist inzwischen auch die Präposition „nahe“ betroffen. Permanent liest man auch in Zeitungen und im Videotext Formulierungen wie „nahe des Tatortes“, „nahe des Bahnhofs“ oder „nahe der Inseln“.

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